Ich habe Nina Wyes von entsprechend.kind, Osteopathin, Heilpraktikerin, Physiotherapeutin, Trageberaterin und selbst Tragemama zum Thema Tragen befragt. Hier könnt ihr das vollständige Interview lesen.
Liebe Nina, kannst du den Lesern erklären, warum das Tragen von Babys aus physiotherapeutischer Sicht so vorteilhaft ist?
Es gibt so viele gute Gründe, da weiß ich kaum wo ich anfangen soll.
Ich fange meist gerne mit folgender Erklärung an, da es auch für Menschen ohne Vorbildung sehr verständlich ist. Unsere Kinder haben, gerade nach der Geburt mit sehr vielen Veränderungen zu kämpfen. Im Bauch sind sie komplett ummantelt von der Fruchtblase und dem warmen Körper der Mutter, sie hören den Puls und gedämpft Außengeräusche, sie können sich bewegen, aber spüren überall eine Begrenzung, die Halt und Orientierung gibt. Sie können sich einstemmen und somit erste Abstemmerfahrungen machen, sie sind nie allein, immer nah bei der Bezugsperson, ja sogar ein Teil davon. Nach der Geburt fallen viele dieser Punkte weg. Das Kind erfährt zum ersten Mal Schwerkraft, sich zu bewegen ist nun erstmal viel schwieriger, der Körper muss selbst seine Temperatur und sein Herzkreislaufsystem regulieren. Wird das Baby abgelegt weiß es nicht wie wir, dass die Umgebung sicher ist, wir in Reich- oder Hörweite sind und uns kümmern. Der Urinstinkt eines Kindes ist um sein Überleben zu kämpfen und dies sichert es durch Nähe und gebunden sein an eine erwachsene Bezugsperson.
Tragen wir unser Kind also bei uns ist es also erstmal in einem möglichst ähnlichen Zustand wie intrauterin. Es hört Mamas Stimme (alle Punkte gelten auch für Papa oder andere Bezugspersonen gleichermaßen), Mamas Körper hilft beim Temperatur- und Herzschlagregulieren, empfindet es Gefahr spürt es zB, dass Mama ruhig bleibt und kann sich auch entspannen. Es ist nicht einfach allen Reizen ausgeliefert, sondern kann sich gut abwenden und Ruhe suchen. Sein Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit ist also gestillt.
Hinzu kommen positiv beeinflussende Faktoren auf z.B. den Bauch und das Verdauungssystem. So wie wir uns eine Wärmflasche auf den Bauch legen (was man bei Kindern nicht machen sollte) und Bewegung den Darm unterstützt wirkt das Bauch-an-Bauch tragen wärmend und mobilisierend, wie eine kleine Bauchmassage. Wenn das Kind gut positioniert ist unterstützt es die natürliche Haltung eines Kindes (die Beine werden in eine sogenannte Tripelflex genommen: Hüften, Knie und Sprunggelenke sind gebeugt).
Vertikale Bewegungen wirken regulierend auf das Nervensystem des Kindes, dies ist gegeben, wenn ich mich mit Trage oder Tuch bewege.
Durch all diese Gründe können viele Kinder getragen gut schlafen. Wer schläft nicht gut, wenn er sich sicher und geborgen fühlt?
Dein Kind ist immer dabei.
Dies ist für das Kind schön, aber auch für die Tragenden sehr praktisch. Erstens, da das Kind sich wie oben beschrieben sicher fühlt und insgesamt ruhiger ist, zweitens, weil wir die Hände und Arme frei haben und beim Tragen Dinge erledigen können, uns um Geschwisterkinder besser kümmern können, was für uns tun können und spazieren gehen können.
Wenn es für die Tragende passt, kann ich sogar unterwegs gut in einer Trage oder im Tragetuch stillen.
Je mehr euer Kind wächst, desto schwerer wird es irgendwann auf dem Arm und gerade Mütter fallen in einen typischen Shift mit ihrem Becken um das Kind dort „abzusetzen“. Daran ist nichts verkehrt, jedoch kann es auf Dauer unangenehm oder anstrengend werden. Im Tuch oder in der Trage verteilt sich das Gewicht so angenehm wie möglich und ich spüre das Gewicht teilweise kaum.
Gibt es auch Vorteile für die Wirbelsäule des Babys und wenn ja, welche?
Je nach Alter und Entwicklungsstufe des Säuglings oder Kindes kann die Wirbelsäule unterschiedliche Belastungen aushalten. Ein Kind, das noch nicht frei sitzen kann, sich die muskuläre Stabilität, die dafür benötigt wird also noch nicht selbst erarbeitet hat, sollte nicht passiv vertikalisiert werden und hingesetzt oder hingestellt werden.
Im Tuch oder in der Trage habe ich eine tolle Möglichkeit, dass das Gewicht gut verteilt wird, die Wirbelsäule weich unterstützt wird und nicht das Gewicht wie im freien Sitz abfangen muss. Hierbei ist wichtig, dass die Wirbelsäule beim Baby nicht durch das Tuch aufgerichtet und „gerade“ gedrückt wird, sondern in seiner physiologischen C-Form bleibt.
Am physiologischsten ist es, wenn ein Kind viele verschiedene Positionen einnimmt, sich Motorik selbst erarbeitet und Erfahrungen für sein Gleichgewichtsorgan macht.
Das heißt, ein Säugling sollte mal auf dem Rücken liegen, mal auf dem Bauch liegen und getragen werden.
Wie beeinflusst das Tragen die Entwicklung des Babys?
Den Einfluss auf den Bauch, das Herzkreislaufsystem und die Temperaturregulation habe ich oben schon genannt.
Ein Säugling hat noch keine gute Orientierung im Raum und kein Gefühl, bzw. keine Vorstellung davon wo sein Körper anfängt und aufhört und was alles dazu gehört. Dies lernt der Körper über sensitive Reize, Berührungen, Bewegung und Erfahrungen im Raum. Dies wird durch das Tragen sanft unterstützt.
Ist das Kind gut positioniert unterstützt es auch die Hüftreifung, da die oben beschriebene Tripelflex eine physiologische Position für die Hüften ist, die das Kind in verschiedenen Entwicklungsschritten einnimmt.
Wie sieht es aus, wenn ein Baby eine Spreizhose oder eine Schiene trägt? Dürfen solche Babys auch getragen werden? Worauf sollten die Eltern dabei besonders achten?
Dies sollte immer in Absprache mit dem behandelndem Arztoder der Ärztin und/oder den Therapeuten passieren und mit Anleitung, damit richtig unterstützt wird.
Generell kann aber getragen werden und der Vorteil ist, dass das Kind nicht nur „nur liegt“, wie man es leider oft sieht, da die Kinder durch die Gestelle in ihrer Beinbewegung eingeschränkt sind. Die Hüftbehandlung mittels der Schienen und Gestelle ist notwendig und sinnvoll, aber man muss sich bewusst machen, dass in dieser Zeit Bewegungserfahrung fehlt, Bewegungsübergänge teilweise erst später erlernt werden, Bauchlage nicht möglich ist. Hier ist also einfach ein Positionswechsel angenehm und abwechslungsreich. Zudem liegen diese Kinder häufig mehr im Kinderwagen und werden weniger getragen, da es einem nicht gut möglich erscheint. Ist es aber.
Oft gibt es zwischen den Physiotherapeuten unterschiedliche Meinungen zum Thema tragen. Wo kommt das her?
Wie in jedem anderen Fachbereich gibt es einfach viele unterschiedliche Schwerpunkte in der Physiotherapie. Das Curriculum für den Pädiatrieunterricht umfasst nicht das Thema Tragen. Je nachdem, welche Fortbildungen man besucht hat und von wem man gelernt hat, hat man unterschiedliches Wissen. Es tut sich sehr viel in der Physiotherapie und man weiß heute wesentlich mehr als noch vor wenigen Jahren, aber zu vielen Themen gibt es auch einfach nicht viel Evidenz oder es gibt sie, aber Therapeuten wissen nicht, wie sie gut an gesicherte Informationen kommen.
In meinem Unterricht an einer Physiotherapieschule fließt es natürlich mit ein, meist ist es jedoch in der Physiotherapie nicht Thema.
Auch in anderen Fachbereichen, wie unter TrageberaterInnen oder Hebammen gibt es viele wertvolle-, aber auch viele Falschinformationen. Jeder macht seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen, manche hinterfragen und prüfen jedoch die Quellen nicht. Für Laien ist es hier häufig schwierig den Durchblick zu behalten.
Wie sieht es mit der Körperhaltung der Eltern aus? Führt das Tragen aus deiner Sicht zu Rückenproblemen? Wie können Eltern sicherstellen, dass sie ergonomisch richtig tragen?
Wichtg ist sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Man kann sich heutzutage gut selbst informieren (aber auch hier muss man abwägen welche Quellen vertrauenswürdig und evidenzbasiert sind) oder beraten lassen.
Alle die länger tragen wissen, dass es himmelweite Unterschiede gibt, je nachdem, wie hoch ich z.B. mein Kind trage oder ob ich es vor dem Bauch oder auf dem Rücken trage.
Tragen KANN zu Beschwerden führen, wenn ich vorbelastet bin und wenn ich unphysiologisch trage und das Gewicht des Kindes im Verhältnis zu meinem Körperschwerpunkt nicht gut verteilt wird.
Wir alle kennen vielleicht Wanderrucksäcke, die über einen Beckengurt das Gewicht von den Schultern auf das Becken umleiten, was für uns wesentlich leichter ist.
Wenn ich das gesamte Gewicht über die Schultergurte trage oder diese zu eng an meinem Hals anliegen kann dies wirklich unangenehm sein.
Je nach Rumpfstabilität und muskulärem Gleichgewicht kann ich auch große Kinder eher vor meinem Bauch tragen oder auf dem Rücken. Hier gibt es keinen allgemeingültigen Tipp für alle. Leider. Aber so ist es ja immer, wenn wir mit Menschen und Körpern arbeiten.
Gerade, wenn ich vorher schon Beschwerden oder ein Handicap habe ist eine Beratung sehr sinnvoll, da ich individuell ausprobieren kann was zu mir passt und wie ich am besten trage.
Speziell Frauen nach einer Geburt haben durch den durch die Geburt betroffenen Beckenboden, die hormonelle Situation und die Rektusdiastase eine wesentlich weniger stabile Mitte und sollten ganz besonders darauf achten, wie sie tragen um für ihren Körper so wenig Belastung und so viel Unterstützung wie möglich zu haben.
Hast du für die tragenden Eltern einen Tipp, worauf sie besonders achten sollten beim Tragen ihres Babys?
Damit man nicht gleich frustriert ist und das Handtuch bzw. Tragetuch schmeißt, sollte man sich kurz mit dem Thema beschäftigen und sich informieren um in dem Dschungel durchzublicken. Am besten nicht einfach irgendeine Trage nehmen oder das Tuch auf gut Glück binden, sondern rausfinden was ich (und mein Baby brauchen): Was passt in meinen Alltag, komm ich dazu ein Tuch zu bügeln oder nehme ich ein sehr pflegeleichtes. Setze ich mich mit dem Binden auseinander oder ist eine Trage manchmal passender für mich? Vertragen mein Kind und ich z.B. Wolle oder suche ich ein veganes Tuch.
Ich persönlich lege auch beim Thema Tragetuch Wert auf Qualität und Nachhaltigkeit. Wann immer es möglich ist nehme ich Produkte bei denen ich weiß wo sie herkommen. Für die Umwelt, für mich, für meine Kinder und die Welt in der sie leben werden.
Zum Abschluss möchte ich gerade in dieser kalten Jahreszeit alle bitten darauf zu achten, dass das Baby immer ein freies Gesicht hat. Leider sieht man, gerade jetzt, viel zu häufig, dass Babyköpfe ganz in der Jacke oder unter einem Schal verschwinden, dass sie zugedeckt sind bis obenhin oder, dass das Kind in der Trage oder im Tuch einsackt und das Gesicht verdeckt wird. Dies wird häufig unterschätzt. Bei Säuglingen kann ein CO2-Überschuss und O2-Mangel viel schneller zustande kommen als bei uns Erwachsenen.
Hinterlasse einen Kommentar
Diese Website ist durch hCaptcha geschützt und es gelten die allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von hCaptcha.